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Recherchenetzwerke schaffen mehr Perspektiven und größeren Impact

In unserer Mai-Videokonferenz haben Elisa Simantke, Geschäftsführerin des Recherche-Teams Investigate Europe, und Stefanie Dodt, Journalistin im Investigativ-Team des NDR, von ihrer Arbeit berichtet.

Im gemeinnützigen europäischen Recherche-Team Investigate Europe recherchieren Journalistinnen und Journalisten aus elf europäischen Ländern Themen mit europaweiter Relevanz, die sich mit länderübergreifenden Strukturen und Akteuren beschäftigen. Sie decken auf, wer für Missstände verantwortlich ist. Für das Team um Geschäftsführerin Elisa Simantke ist die europäische Perspektive die Summe aus europäischen Perspektiven in den jeweiligen Nationalstaaten. Seit Investigate Europe 2016 gegründet wurde, wurden 18 große Geschichten recherchiert, aus denen 400 Artikel entstanden sind, die dann bei den nationalen Medienpartnern veröffentlicht wurden. Ein Partner in Deutschland ist z.B. der Tagesspiegel.

Das Team beschäftigt sich vor allem mit Recherchen zum Finanzmarkt, Klimawandel und zur Migration. Am Beispiel einer Geschichte, die die Ausbeutung europäischer LKW-Fahrer darstellte, erklärte Simantke, wie das Team europaweit dieses System nachzeichnen konnte. Das Team gehe bei seinen Recherchen von der Frage aus, wer profitiert und wer verantwortlich ist. In einer Langzeitrecherche beschäftigte sich Investigate Europe mit der Arbeit des Ministerrats in Brüssel. Hier sei es um die Frage gegangen, welche Länder eigentlich welche Gesetze blockieren, obwohl sie in der Öffentlichkeit zum Teil das Gegenteil behaupteten, so Simantke.

Künftig soll das Team weiter wachsen. Zum Teil stellt Investigate Europe auch Journalistinnen und Journalisten temporär ein und plant darüber hinaus eine Newsreporterin- oder -reporter einzustellen, um an bestimmten Themen besser dranbleiben zu können, sagte Simantke.
Alexander Fanta von netzpolitik.org fragte Elisa Simantke, wie man es schaffe, die unterschiedlichen journalistischen Kulturen zu vereinen, da es ja z.B. bei Autorisierungen von Interviews verschiedene Ansätze in den Ländern gebe. Simantke antwortete, dass es hier auf die Absprachen mit den Interviewten ankomme. Das handhabe man eher flexibel. Generell habe man sich im Team auf bestimmte Standards und Ziele geeinigt, ohne die Kulturen und Mentalitäten zu verändern.

Die „Paradise Papers“: ein „Weihnachtsmoment“

Darüber hinaus war Stefanie Dodt zu Gast. Sie ist Teil der Recherchekooperation aus NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung sowie des International Consortium of Investigative Journalist (ICIJ). Sie war auch an den „Paradise Papers“ beteiligt, an denen sie in den Vereinigten Staaten mitrecherchierte. Sie seien ein Rechercheprojekt gewesen, das es in dieser Form nicht oft gebe, eine Art „Weihnachtsmoment“. Ein Kollege habe eine riesige Datensammlung mit interessanten Informationen, wie Privatpersonen und Unternehmen Steuern vermeiden und hinterziehen, zugespielt bekommen. Das Leak selbst sei aber nur ein kleines Puzzlestück der gesamten Geschichte gewesen. Wenn man nur ein Ressort oder ein kleines Team gewesen wäre, hätte man diese Geschichte nicht in der Form recherchieren können, so Dodt.
Besonders, wenn es um länderübergreifende Geschichten geht, bietet das ICIJ die Möglichkeit, dass Journalistinnen und Journalisten sich gegenseitig unterstützen und voneinander profitieren können.

Darüber hinaus ermöglicht das Konsortium, dass Geschichten in Medien weltweit gleichzeitig veröffentlicht werden: Die Relevanz und Schlagkraft, die durch diese gleichzeitige Veröffentlichung zustande komme, sei kaum zu überschätzen, sagte Dodt. Für Verantwortliche sei es viel schwieriger, das Thema „unter den Teppich zu kehren“, wenn so viele Medien beteiligt sind. Dodt sieht diesen „Impact“ als einen der größten Vorteile von Recherchenetzwerken.

Recherchen zu VW und zum Bluthandel

Dodt sieht aber auch in losen oder einmaligen Kooperationen Chancen, die Qualität im Journalismus zu erhalten oder zu verbessern. Investigativer Journalismus sei nicht nur in großen Recherchekooperationen möglich. Als Beispiel nannte sie ihre Recherche zur Zusammenarbeit von Volkswagen und der brasilianischen Regierung zur Zeit der Militärdiktatur, in der der Automobilkonzern seine Mitarbeiter ausspioniert und ausgeliefert habe. Hier habe sie sich zunächst ARD-intern organisiert und so Verbindungen nach Brasilien nutzen können. Im Endeffekt lief die Recherche dann im Team zusammen mit NDR, SWR und der SZ. Auf diese folgten weitere Kooperationen.

Beispielsweise recherchierte das Team um Dodt auch eine Geschichte, in der es darum ging, dass Personen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze von internationalen Unternehmen zum Spenden von Blutplasma genötigt wurden. In diesem Zusammenhang verwies Dodt darauf, dass sie mithilfe des Teams auf unterschiedliche Expertisen habe zurückgreifen können, z.B. eine Ärztin, die die gesundheitlichen Folgen der Spenden analysieren konnte. Außerdem sei sie mit einer Gerichtssreporterin vom US-amerikanischem Non-Profit-Newsdesk ProPublica die Dokumente durchgegangen, die sie von den Unternehmen erhalten habe. So konnten Kompetenzen gebündelt werden, die sonst so nicht zustande gekommen wären. Aus Sicht von Dodt seien Recherchenetzwerke am besten geeignet, wenn Sachverhalte sehr komplex, relevant für die Öffentlichkeit und bisher wenig transparent gewesen seien. Mit ihren Recherchen zu VW und zum Bluthandel habe sie allerdings ein Jahr verbracht: „Es ist natürlich auch eine finanzielle Frage, ob sich das ein Medium leisten kann“, sagte Dodt.

Zusammenarbeit mit dem Lokaljournalismus?

Marion Knappe vom DGB fragte Stefanie Dodt, ob in den Recherchenetzwerken auch über eine Zusammenarbeit mit dem Lokaljournalismus nachgedacht werde, da diese allein kaum die Ressourcen dazu hätten. Es gebe regelmäßige Kooperationen mit dem Lokaljournalismus, ARD-intern, aber auch extern, sagte Dodt. Gerade, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk wegen der Rundfunkgebühren eine bessere Ausstattung habe, sei es wichtig den Lokaljournalismus, der diese Möglichkeiten nicht hat, zu unterstützen.
Sie sieht auch eine Möglichkeit darin, wie von ProPublica, Netzwerk Recherche und einigen Stiftungen initiiert, Lokaljournalistinnen und -journalisten finanziell zu unterstützen, damit sie sich ganz auf ihre investigative Arbeit konzentrieren können.

Dodt sagte auch, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Medien in den Chefetagen von lokalen Medien insgesamt größer werden müsse. Auch wenn sie eingestand, dass sie Verständnis für die Angst der Verantwortlichen habe, das Alleinstellungsmerkmal zu verlieren, wenn eine Geschichte in mehreren lokalen Medien läuft, die ja eigentlich in Konkurrenz zueinanderstehen.

„Dafür muss man sich mühsam Zeit freischaufeln“

Michael Steinbrecher berichtete in diesem Zusammenhang von einem Ergebnis der Studie „Journalismus und Demokratie“, die er gemeinsam mit Günther Rager, emeritierter Professor für Journalistik am IJ, leitet. Viele der befragten Journalistinnen und Journalisten hätten den Wunsch geäußert, endlich mal vom Schreibtisch „wegzukommen“. Journalistik-Professorin Wiebke Möhring, Expertin für Lokaljournalismus, bestätigte, wie schwierig es für Lokaljournalistinnen und -journalisten sei, Zeit für investigative Geschichten aufzuwenden. „Dafür muss man sich mühsam Zeit freischaufeln“, sagte Möhring. Aus ihrer Sicht würden die Redaktionen bestimmt gerne mehr investigative Geschichten bringen, die finanzielle und personelle Realität stehe dem aber im Wege.

Günther Rager wollte wissen, ob die Recherche in Netzwerken nicht die Gefahr berge, Themen zu einseitig zu betrachten. Dodt verneinte dies, aus ihrer Erfahrung sei es vielmehr so, dass die unterschiedlichen Länderperspektiven zu vielfältigen Interpretationen führen. „Wie furchtbar wäre das denn, wenn wir aus den Dokumenten, die wir bekommen, alle die gleiche Geschichte erzählen würden?“, fragte Dodt.

Elisa Simantke von Investigate Europe wies auch darauf hin, dass eine Geschichte nicht unbedingt jedes Mal komplett neu sein müsse. Aus ihrer Sicht sei es oft schon hilfreich, unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten und daraus Muster zu entwickeln: Hat das Unternehmen dieses Fehlverhalten möglicherweise auch in einem anderen Land der EU gezeigt? Gerade, wenn es um strukturelles Versagen gehe, könne man voneinander profitieren, so Simantke.



Bildnachweis: Patcharin Saenlakon / iStock

Eilsa Simantke (links), Geschäftsführerin von Investigate Europe (Foto: Kristin Bethge), und Stefanie Dodt, Journalistin im Investigativ-Team des NDR (Foto: NDR)

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